Elternstammtisch, 3. Klasse, Frühling 2013
Kennt ihr dieses Gefühl? Vielleicht ist „Ohnmacht“ nicht das richtige Wort. Es ist so etwas, wie sich mühsam vorwärtszubewegen. Wie auf dem schmalen Grat zwischen dem Abgrund, dem Ort, von dem kein Weg zurückführt, dem Ort, an dem alle Verbindungen gekappt sind, und der steilen Felswand, an der man sich festklammert, die zu erklimmen ist. Nur der Weg ist nicht dein Weg. Das ist der Weg deines Kindes.
Behutsam unternimmst du alles Erdenkliche, um dein Kind vor den Gefahren zu schützen. Du schaust in jeden Felsspalt, prüfst jeden Stein auf Festigkeit. Für dich steht alles auf dem Spiel. Du hältst dich unter Kontrolle, du änderst deine Pläne, du vernachlässigst deinen Partner, deine Freunde, dich selbst. Du überlegst dir Strategien, wie dein Kind am besten vorankommt. Du denkst dir die Spiele aus, um das Vorankommen schmackhaft zu machen, dein Kind zum Lernen anzuspornen. Du bremst deine Ungeduld. Du spürst, wie dein Herz anfängt, schneller zu schlagen. Wie dir das Blut ins Gesicht schießt. Wie deine Hände wieder zu zittern beginnen. Du bekommst das Gefühl von Ohnmacht.
Dein Kind hat seinen Füller fallengelassen, sein Mathebuch zugeschlagen. Es sammelt abwesend die Stifte vom Tisch in seine Federtasche auf, schiebt die zur Hälfte erledigten Hausaufgaben beiseite. Es ist weg. Weg, in eine Welt aus Einsen und Nullen. Weg, in der Welt, wo es keine Verantwortung gibt. In der Welt, wo reale Konsequenzen fernbleiben. Dort, wo alles leicht scheint. Dort, wo es selbst zu einer Abfolge aus Einsen und Nullen wird. Weg in der unendlichen Weite des Internets vertieft in sein Handy.
Kennt ihr das Gefühl?
Er, der Vater von Paula, setzte sich wieder. Mit seinen zittrigen Händen hielte er sich fest um den vollen Bierkrug. Seine Augen bohrten ein Loch in den Tisch.
An einer Haltestelle, Juni 2022
Berlin, Rathaus Steglitz – Ein sieben- oder achtjähriger Junge verließ flott den Bus und rief „Papa, Papa!“.
Ein Mann, mehrere Meter entfernt, stolperte, während er auf sein Handy schaute.
„Papa! Du hast etwas im Bus vergessen!“
Der Mann drehte sich um, den Blick auf das Handy gebannt: „Und was?“
„Mich!“ – antwortete der Junge.
„Papa, wie viel kostet ein Schlumpf, wenn drei Schlümpfe 1,50 Euro kosten?“ – startete der Junge eine weitere Schlacht gegen das Handy um die Aufmerksamkeit seines Vaters.
„Papa, Papa, na, wie viel kostet einer?“ – ließ der Junge nicht locker.
Veröffentlicht in „Der Tagesspiegel“ Nr. 24 940, am Sonntag, 3. Juli 2022 in der Rubrik „Berliner Liste – kleine Geschichten aus der großen Stadt“, Nr. 4 - BITTE BEACHTEN!!!
* Das Binärsystem ist die Grundlage der Funktionsweise alle unserer Computer. Das Binärsystem besteht aus Kombinationen aus 1 und 0.