Das Erwachen

Der Montag nach der Segelprüfung, 12. Oktober 

– Schatz, – Michas sanfte Stimme bohrte sich in mein Bewusstsein.
Ich öffnete die Augen. Schloss sie wieder zu. Versuchte es noch mal. Wieder das Gleiche. Ich kann nicht fokussieren, alles bewegt sich, alles ist schwammig. Ich schloss meine Augen wieder.

– Es ist halb sieben, wann willst du aufstehen? – fragte er, von der Schlafzimmer Tür. Ich murmelte etwas, er ging runter ins Erdgeschoss, um weiter zu frühstücken.
Der Wecker hat, wie immer, Punkt sechs geklingelt. Er hat ihn lässig angetippt, darauf hörte der Wecker mit dem Piepen auf. Ein paar Minuten später, das gleiche und beim dritten Weckversuch des Weckers steht Micha auf. Das ist festes morgendliches Weck-Ritual meines Mannes. Selten bekomme ich etwas davon mit. Klingelton des Weckers habe ich vor Jahre auf meine „bekannte Geräusche Liste“ aufgenommen, das heißt, ignorieren, weiterschlafen. Heute nahm ich alles wahr.

– Na sag mal, es ist zwanzig nach sieben. Hast du heute keine Termine? Willst du weiterschlafen? Ist alles in Ordnung?
Etwas sagen! Sag doch etwas! Sag endlich, egal was! Gedanken kamen wie Blitze, die Wörter waren weg. Mir fielen Wörter auf Kroatisch ein. Die ergaben für Micha aber keinen Sinn. Er verstand inzwischen eine Menge, aber nicht heute, nicht das, was ich versuchte, ihm zu sagen.
Ich ließ meine Augen verschlossen. Ohren funktionierten gut, Gott sei Dank – dachte ich, als ich Michas Schritten und dann sein Atem nah am Bett hörte.

– Möchtest du etwas Wasser trinken? – Ich nickte und setzte mich mühsam im Bett auf. Micha nahm das Glas von meinem Nachttischschrank, lehnte es an meine Lippen an und ich trank etwas Wasser. Das Chaos in meinem Kopf war immer noch da. Ich dachte auf Kroatisch, mein Deutsch war weg. Wo ist mein Englisch? Lass das, konzentriere dich! – befiel ich mir. Ich legte mich wieder hin. Atmete tief ein, langsam und bewusst aus. Noch mal.

– Was ist los? – sanfte, besorgte Frage.
Meine Schulter kann ich gut bewegen. Micha verstand mich.
– Du weißt nicht, was mit dir los ist, richtig? – Ich nickte.
– Kann ich etwas für dich tun?
Ich bewegte meinen Kopf wieder.
– Nein? – fragte er. Ich nickte.
– Soll ich einen Arzt anrufen? Nein? Bist du sicher? Na gut, dann gehe ich mich fertig machen.
Seine Schritte würden leiser.

Er ließ die Schlafzimmertür offen. Das Wasser im Waschbecken im Badezimmer plätscherte.
Klare Gedanken, bitte! – Wünschte ich mir.
Ich machte das rechte Auge auf, das geht. Das linke Auge, das geht auch. Ich setzte mich im Bett langsam mit geschlossenen Augen auf. Einzeln Augen aufmachen, das funktioniert, beide gleichzeitig aufzuhaben, geht nicht. Alles bewegt sich, ich kann nicht fokussieren.
Micha kam ins Zimmer. Seine Stimme klang jetzt hell und fröhlich.

– Stehst du auf? Geht es dir wieder gut, oder? Warst du noch müde? Hast du letzter Nacht schlecht geschlafen? Ich nämlich auch. Ich bin dann irgendwann aufs Klo gegangen und bis ca. fünf Uhr gut geschlafen. Der Nachbar mit seiner Kutsche hat mich geweckt, kurz vor sechs. Ich kann mich an den Lärm seines Wagens nicht gewöhnen. Es ist einfach zu laut du siehst aber blass aus – sein letzter Satz kam ohne Komma oder Punkt aus seinem Mund. Er setzte sich neben mir auf das Bett, umarmte mich und fing mich am Kopf zu streicheln. Seine Finger verhakten sich in meinen Haaren, er zog, ich schrie. Das war das erste Geräusch aus meinem Mund heute!

– Ich bleibe noch ahmm naa.
– Willst du noch im Bett bleiben? Mach das, du bist noch erschöpft von Kentern und von der Prüfung. Ich mache dir meinen Wecker an, um wie viel Uhr soll er klingeln? Wann willst du aufstehen? Ach, den Wecker nimmst du sowieso nicht wahr. Ich kann dich anrufen, sag nur wann, falls du möchtest.
Ich legte mich wieder hin. Es ist besser, wenn Micha ins Büro fährt. Ich komme allein schon klar. Eine Handbewegung und er hat mich verstanden, er gibt mir einen Kuss und geht nach unten. Ein paar Minuten später ging die Haustür zu, das Fahrradschloss streifte hörbar über dem Verandageländer, das Gartentor knallte in den Türrahmen, ein Schwarm Spatzen beschwerte sich über den Lärm.
Stille.

Ich schaute zum Fenster. Licht drängte durch die schmalen Schlitze der Rollläden. Die Spatzen zwitscherten im Gebüsch vor dem Schlafzimmerfenster. Ich drehte mich zu Micha um und schaute auf seinen Wecker. Der Wecker zeigte 05:58.
Ich sagte leise: „Ich hatte einen Alptraum.“
– Du bist schon wach? Wovon hast du geträumt? – Fragte Micha, tippte lässig auf seinen Wecker und drehte sich zu mir.
– Ich weiß es nicht genau, es wirkte so echt. Ich konnte die Welt mit einzelnem Auge sehen,… Ich konnte alles hören, aber nichts sagen…

Der Sommertraum

Donnerstag, der 08. Oktober 2020
Über dem Segelkurs im Herbst 2019 und dem Auffrischungskurs vor der Prüfung 2020

Ich bog an der Ampel nach links auf einen Kopfsteinpflasterweg. Die Parklücke neben einem Transporter auf der rechten Straßenseite war meine. Ich zog die Handbremse, stellte den Motor aus. Stille. Nur noch vereinzelt donnerten dicke Wassertropfen von den Bäumen auf das Blechdach meines Autos. Es regnete nicht mehr.
35 min zu früh, ich war schon wieder überpünktlich. Zwölf Tage Segelkurs letzten Herbst, jedes Mal pünktlich. Heute, Auffrischungskurs vor der Prüfung am Samstag und wieder pünktlich. Das hat etwas zu bedeuten.
Meine niedrigen Socken und Sneakers räumten den Platz an meinen Füßen für ein Paar flauschige warme Knie-Socken. Die dunkelblaue Regenhose zog ich über meine Jeans, noch die hellblaue Regenjacke und, gestern beim Discounter zufällig gefundene und sofort gekaufte gefütterte gelbe Gummistiefel. Die Sonnenbrillen bleiben im Auto. Fertig, angezogen, Auto abgeschlossen.
Mit dem Rucksack an meiner Schulter, gefüllt mit einem Handtuch, Sachen zum Umziehen, „just-in-Case“, einem halben Liter heißen Salbeitee in meiner Thermosflasche, eine Packung Kekse, Autoschlüssel und Smartphone, schlenderte ich den steilen Trampelpfad Richtung See.

Die endlose Weite des Meeres. Die strahlend weißen Dreiecke der Regatta auf der tiefblauen Adria. Die Sonne brannte. Der Wind zerzauste mein Haar. In meinen Gedanken saß ich auf dem glatten Seitendeck der Jolle, in Wirklichkeit auf einem harten rauen Stein am Strand. Jeden Sommer der gleiche Beschluss, zu Hause, in Berlin werde ich zum Segelkurs gehen und Segelschein machen.
Im Berlin angekommen, nach nur wenigen Tagen sprang die Alltagsmühle an. Die Prioritäten ordneten sich wie von selbst neu. Der Herbst kam, der Winter nahte sich, der Segelschein ist ein Sommertraum geblieben.
Nicht den letzten Herbst.

Der Weg machte die letzte Biegung nach rechts – Überraschung – das Tor zur Anlage war geschlossen. Ein Pfeil auf einem nass gewordenen Zettel zeigte in die Richtung des Nebeneingangs. Neuer Schild hing am Tor: „Maskenpflicht“.